In der dunklen Jahreszeit zeigt sich Nürtingen von seiner leuchtenden Seite.
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REIZEND! Spitzen & Korsette - und was Nürtingen damit zu tun hat...
In keinster Weise anrüchig, aber in höchstem Maße reizvoll erweist sich die neue Sonderausstellung des Stadtmuseums Nürtingen, die sich vom 30. Juni bis zum 30. September einem fast vergessenen Zweig der Textilindustrie widmet: der Korsettweberei und der Spitzenklöpplerei. Edle Korsette feiner Damen kontrastieren mit einfacher Aussteuerwäsche für Bäuerinnen und Handwerkerfrauen. Die Herstellung von Gesundheitswäsche durch den ersten Nürtinger Strickwarenfabrikanten Franz Entreß ist ebenso Thema wie das Schneideratelier des 1952 in der Neckarsteige gegründeten Wäsche- und Sanitätshauses Schmidt.
Spitzen, Mieder und Korsette über seit Generationen einen besonderen Reiz aus. Dass Nürtingen in der Kulturgeschichte der Miederwaren im 19. Jahrhundert eine weltweit nicht unbedeutende Stellung einnahm, dürfte jedoch den Wenigsten bekannt sein.
Mitte des 19. Jahrhunderts führte der Niedergang der traditionellen Leinweberei zu einer großen Handweberkrise in Württemberg. Um neue Erwerbsmöglichkeiten zu eröffnen, förderte die Zentralstelle für Handel und Gewerbe die Gründung der ersten deutschen Korsettfabrik durch den Franzosen d'Ambly in Stuttgart. Aufgrund von Absatzproblemen musste die Fabrik zwar nach einem Jahr wieder schließen, denn die wohlhabenden Damen ließen sich ihre Luxuswäsche nach wie vor in Paris auf den Leib schneidern und für die Bäuerinnen war die einschnürende Wäsche bei der körperlichen Arbeit einfach nur hinderlich.
Der Durchbruch kam aber mit dem Export in die USA, wo die sozialen Unterschiede geringer ausfielen. Die Stuttgarter Firma Frobenius, Ottenheimer & Co. unterhielt im ganzen Land 35 Filialgeschäfte und gründete im Jahre 1852 auch eine Filiale in Nürtingen. 1885 gab es im Oberamtsbezirk Nürtingen sieben Korsettmanufakturen mit insgesamt 200 Beschäftigten. Die Produktion unterlag starken Schwankungen aufgrund der Abhängigkeit von Rohstoffpreisen, Ausfuhrzöllen, Modeströmen und der Konkurrenz aus Frankreich. In den 1880er Jahren begehrte die entstandene Stammbelegschaft jedoch gegen Lohnkürzungen in der Krise auf. Am 11. Februar 1886 riefen sämtliche Korsettweber der Stadt zum Streik auf und markierten damit den ersten Arbeitskampf in der Geschichte Nürtingens.
Parallel dazu erfuhr die Spitzenklöpplerei in den 1850er Jahren neuen Aufschwung im Oberamt Nürtingen. Der Bortenmacher Carl Robeck eröffnete 1857 eine Klöppelschule für Mädchen aus ärmlichen Verhältnissen in Nürtingen. Auch in Köngen und Beuren entstanden Klöppelschulen, die mit Händlern eng zusammen arbeiteten.
Modebewusste Frauen unterwarfen sich im Kaiserreich des Diktats der Wespentaille, die als Schönheitsideal galt und schnürten sich in Korsette ein, die erst in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts mit der Einführung des elastischen Gummis eine neue weibliche Körperkultur zuließen. Während die schmalste Taille der US-Amerikanerin Cathie Jung im Guinness-Buch der Rekorde mit 38 Zentimetern zu Buche steht, ist in der Nürtinger Sonderausstellung ein Modell mit immerhin 40 Zentimetern zu begutachten.
Eine erfolgreiche Alternative zur einschnürenden Mode bot Nürtingens erster Strickwarenfabrikant Franz Entreß an, der 1884 eine Fabrik im Steinernen Bau gründete. Er propagierte die gesundheitsfördernde Wirkung von Schafwolle und landete mit seiner "Gesundheitswäsche" einen Verkaufsschlager, dessen Erfolg bis in die USA reichte.
Der erste in Serie produzierte Büstenhalter der Welt wird Sigmund Lindauer zugeschrieben, der ab 1866 Korsette in der von Frobenius, Ottenheimer & Co. gegründeten Manufaktur in Nürtingen herstellen ließ. 1882 wurde sie in "S. Lindauer & Co." umbenannt. 1912 tüftelte Lindauer mit seinem Schwiegersohn Wilhelm Meyer-Ilschen in Cannstatt an einem Büstenhalter ohne Längs- und Querstützen und brachte mit dem "Hautana" den ersten in Serie gefertigten BH der Welt auf den Markt.
Die Erfindung der Nähmaschine machte viele Weber arbeitslos und sorgte dafür, dass die Konfektionierungsindustrie zur weiblichen Domäne wurde. 1886 machten sich der Webmeister Johann Gottfried Spießhofer und der Kaufmann Michael Braun in Heubach auf der Schwäbischen Alb mit sechs Nähmaschinen selbstständig. Das Kleinunternehmen entwickelte sich später zu Europas größtem Miederwarenhersteller Triumph International.
In Nürtingen ist der Beruf des Korsettschneidermeisters noch nicht ganz ausgestorben. Seit 1952 gibt es in der Neckarsteige das Sanitäts- und Wäschehaus Schmid, gegründet von Erich Schmid, der sowohl Hüfthalter und Leibbinden als auch modische Miederwaren entwarf. Das Gesellenstück seiner Tochter Birgit Werner, das aus Büstenhalter und Mieder besteht, ist samt selbstgefertigten Schnittmuster in der Ausstellung zu sehen und bildet den vorläufigen Schlusspunkt der Sonderausstellung.
Die Ausstellung ist vom 30. Juni bis 30. September im Stadtmuseum Nürtingen, Wörthstr.1, 72622 Nürtingen, Tel.: 07022 / 36334, zu sehen. Öffnungszeiten: dienstags, mittwochs und samstags von 14.30 Uhr bis 17 Uhr und sonntags von 11-18 Uhr. Eröffnet wird die Ausstellung am Freitag, den 29. Juni um 19 Uhr mit einem Referat von Susanne Goebel, Leiterin des Maschenmuseums Albstadt.