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Geplante Änderung der Flugroute am Flughafen Stuttgart
icon.crdate15.06.2022
Offener Brief der Städte Nürtingen und Aichtal sowie der Gemeinden Wolfschlugen, Neuhausen und Denkendorf an die Landesregierung
Offener Brief zur geplanten Änderung der Flugroute am Flughafen Stuttgart
Sehr geehrter Herr Minister Hermann,
sehr geehrte Damen und Herren,
mit großer Sorge verfolgen wir die Entwicklungen bezüglich der neuen TEDGO-Flugroute. Der Vorsitzende der Fluglärmkommission, Christof Bolay, hat das Ergebnis wie folgt zusammengefasst: „im Kern handelt es sich um Veränderungen im Promillebereich“. Dies klingt auf den ersten Blick nicht dramatisch. Tatsächlich hält sich die Entlastung von schon bisher vom Fluglärm geplagten Bürgerinnen und Bürgern in engen Grenzen, sehr wohl wird es jedoch eine neue Belastung für viele Menschen in unseren Ortschaften geben, wenn zwischen
6 und 7 Uhr anstatt keinem Flugzeug, mehrere Flugzeuge in niedriger Höhe passieren werden. Insgesamt steigt unserer Auffassung nach die Gesamtbetroffenheit.
Damit ist das Hauptargument der Fluggesellschaften, auf deren Initiative die Flugroutenänderung zurückgeht, widerlegt. Sie hatten in den Gemeinderäten eine Entlastung von 90.000 Menschen ins Feld geführt. Das Klimaschutzargument war schon zuvor heimlich, still und leise verschwunden.
Bei objektiver Betrachtung der Lage müsste die Flugroutenänderung nun vom Tisch sein, da die beiden in vielen Gemeinderatssitzungen von den Vertretern der Fluggesellschaften mit großer Vehemenz ins Feld geführten Gründe nicht greifen. Das neue Lärmgutachten birgt nun die Chance: alle Beteiligten könnten aufgrund der offensichtlich fehlerhaften Annahmen von dem Plan gesichtswahrend zurücktreten und die Pläne für die Flugroutenänderung zu den Akten legen.
Umso überraschter waren wir, dass die Pläne immer noch mit gleichem Tempo vorangetrieben werden. Und nicht nur das: das Verkehrsministerium hat mit der Berufung von Deizisau und Altbach – obwohl uns Neutralität zugesagt wurde – faktisch in die Mehrheitsverhältnisse der Fluglärmkommission eingegriffen und dies inmitten eines strittigen Verfahrens und entgegen der Soll-Vorschrift des § 32b Luftverkehrsgesetz. Damit wurde das ausdrückliche Ziel, zur Befriedigung der Kommunen beizutragen, aus unserer Sicht verfehlt und leider – gewollt oder ungewollt – Öl ins Feuer gegossen.
Die neutralen Mitglieder der Fluglärmkommission, deren Kommunen keine eigenen Interessen verfolgen, haben so weniger Gewicht. Über Jahre hinweg wurde der Antrag von Deizisau und Altbach unter Hinweis auf die Sollvorschrift abgelehnt. Es bestand also rechtlich keinerlei Anspruch oder Druck, so zu handeln. Sollten die Stimmen entscheidend sein, würde es nach unserer Einschätzung – und wir haben das Ohr eng an der Bevölkerung – einen heute noch nicht absehbaren Vertrauensverlust in die Politik bringen. Bei jeder Wahl würde dies wieder auf den Tisch kommen. Wir hoffen alle, dass es nicht soweit kommt.
Die Frage, die sich uns allen aufdrängt, was denn nun der tatsächliche Hintergrund der Flugroutenänderung ist, wenn Lärmschutz- und Klimaschutzgründe ganz offensichtlich als wesentliche Begründung ausscheiden? Sind es rein wirtschaftliche Gründe? Hierzu passt, dass die Anregung nicht etwa von fluglärmgeplagten Bürgerinnen und Bürgern kam, sondern maßgeblich von der Fluggesellschaft „Eurowings“.
Dabei geht es hier ja gerade um die kurzen Flüge nach Mallorca mit leichten, kleineren Flugzeugen. Wir waren bisher der Ansicht, dass man politisch auf Landesebene den Flugverkehr auf diesen kürzeren Strecken reduzieren möchte und dafür weniger, ggf. größere Flugzeuge zum Einsatz kommen sollen. Dies hat auch unsere volle politische Unterstützung. Jedenfalls steckt hierin politisch Zündstoff, steht doch aus Sicht vieler Bürgerinnen und Bürger viel Glaubwürdigkeit auf dem Spiel.
Wirtschaftliche Gründe sind im Grundsatz nicht verwerflich, wir alle profitieren vom Stuttgarter Flughafen, aber warum werden diese nicht klar dargestellt und benannt? Wir sind der Auffassung, dass es in der heutigen Zeit ohne Transparenz und Bürgerbeteiligung in keinem Bereich mehr geht und zählen hier auf Ihre Unterstützung.
Wenn man eine sachliche Abwägung trifft, sprechen wohl vermeintliche, bisher nicht angeführte wirtschaftliche Erwägungen für die Flugroutenänderung. Dagegen spricht aus unserer Sicht, dass keine wesentlichen Fluglärmentlastungs- und Klimagründe dafürsprechen. Es gibt deutlich effektivere Methoden, Fluglärm auf den bisherigen Flugrouten zu minimieren, wie etwa die Umstellung auf ein Steilflugverfahren.
Zudem ist nicht nachvollziehbar, vom jahrzehntelangen Grundsatz abzuweichen, unvermeidbaren Lärm zu bündeln, statt ihn zu verteilen und die Zahl der lärmbetroffenen Menschen insgesamt zu erhöhen.
Sicher mehr dagegen als dafür spricht die schärfere Kurvenführung. Wir glauben zwar auch, dass die deutsche Flugsicherung keine unsichere Flugroute freigeben wird - so viel Vertrauen in die Flugsicherung sollten wir alle haben - aber immerhin bedarf es laut DFS wegen der extremen Abweichungen zu den internationalen Vorschiften Ausnahmegenehmigungen.
Ein gewichtiger Grund dagegen ist, dass das Durchpeitschen der Flugroutenänderung weiter einen Keil durch die kommunale Familie treibt. Die Schuld sehen wir hier nicht bei den angeblich entlasteten Kommunen. Ihnen wurde ja suggeriert, dass 90.000 Menschen entlastet werden. Dass dann lärmgeplagte Kommunen dafür sind, dafür haben wir großes Verständnis – die Ernüchterung wird entsprechend groß sein, wenn die Entlastung nicht oder kaum spürbar sein wird.
Weiter spricht die rechtliche Unsicherheit dagegen. Die Chancen für eine erfolgreiche Klage scheinen nicht schlecht zu stehen, da der Planfeststellungsbeschluss des Flughafens etwa nie in Nürtingen ausgelegt wurde. Dies hat Herr Rechtsanwalt Dr. Spilok von der renommierten Stuttgarter Anwaltskanzlei Kasper Knacke in seinem Gutachten deutlich gemacht, das dem Schreiben beiliegt. Sollte die Fluglärmkommission für die neue Flugroute stimmen, werden wir und weitere betroffene Städte und Gemeinden, auch angrenzender Landkreise, gegen die Rechtsverordnung klagen. Der Streit wird über Jahre öffentlichkeitswirksam nicht zur Ruhe kommen.
Für uns entscheidend gegen die Flugroutenänderung spricht das von Anfang an intransparente Verfahren auf fehlerhafter Tatsachen- und Datengrundlage. Dieser Makel ist für uns nicht heilbar und klebt an dem ganzen Prozess. Es spricht gegen jedes Gerechtigkeitsgefühl, dass die Fluggesellschaften damit durchkommen.
Zuletzt ist festzuhalten, dass das gesamte Verfahren vollkommen aus der Zeit gefallen ist – es ist das personifizierte „St. Floriansprinzip“ garniert mit dem antiquierten Modell „der Stärkere bzw. der besser in der Fluglärmkommission Vertretene setzt sich durch“. Wir sind aber im 21. Jahrhundert – Transparenz, Verfahrensklarheit und demokratische Legitimation sind für jeden Entscheidungsprozess konstituierend.
Sehr geehrte Mitglieder der Fluglärmkommission, Abgeordnete, Vertreter aus Politik, Presse und Verwaltung, liebe Bürgerinnen und Bürger, dieses Schreiben ist ein Hilferuf und unser letzter Versuch, ohne weitere Verletzungen in der kommunalen Familie, ohne öffentlichen Schlagabtausch über Jahre, dieses Thema zu einem guten Ende zu bringen. Das Lärmschutzgutachten gibt der Fluglärmkommission, den Fluggesellschaften, dem Verkehrsministerium, dem Flughafen und allen weiteren Beteiligten die Möglichkeit, gesichtswahrend aus dieser verzwickten Sachlage herauszukommen und diese Pläne nicht weiter zu verfolgen. Lassen Sie bitte diese Chance nicht ungenutzt.
Wir plädieren dafür, dass das Verfahren auf „Stopp“ gesetzt wird und Arbeitsgruppen sich auf Bundes- und Landesebene damit beschäftigen, wie etwaige Flugroutenänderungen in Zeiten des Klimawandels zukünftig unter Beteiligung der Öffentlichkeit – das ist ja nicht verboten – vonstattengehen sollen oder – fast wichtiger – im Sinne des 1,5 Grad Ziels eine Reduzierung von CO2 im Flugverkehr zu erreichen ist. Hier müssen auch Forderungen wie weniger Kurzflüge und größere Flugzeuge auf den Tisch. Eine Forderung wäre auch, dass die Fluglärmkommission in Baden-Württemberg öffentlich tagt.
Für uns und für viele andere gibt es einfach keinen vernünftigen Grund, warum von dem 70-jährigen Konsens abgewichen wird, dass Fluglärm gebündelt und nicht verteilt wird. Dies betont auch die Schutzgemeinschaft Filder e.V.
Die Bürgerinnen und Bürger hatten entsprechend des Planfeststellungsbeschlusses immer die Wahl, ob sie in ein Abfluggebiet ziehen und dies in Kauf nehmen und ggf. weniger für eine Immobilie bezahlen oder in ein Gebiet, das nicht vom Fluglärm getroffen wird, was sich auch in Grundstückspreisen auswirkt.
Wir sind bereit, rechtlich gegen die Flugroutenänderung vorzugehen. Wir machen dies nicht nur, weil unsere Bürgerinnen und Bürger und unsere Gremien dies von uns einfordern, sondern auch weil es aus unserer Sicht um mehr geht, als eine neue Flugroute. Es geht um Transparenz, Verlässlichkeit und Fairness in der Politik und um Bürgerbeteiligung.
Wir werden diesen Weg zusammen mit anderen Kommunen und sicherlich vielen Bürgerinnen und Bürgern gehen, gehen diesen Weg aber nicht gerne, da dies die kommunale Familie entzweit und alle Seiten viel Kraft und Energie kosten wird, Energie die wir lieber in die Verkehrswende und die Klimaanpassung stecken würden. Daher bitten wir alle Beteiligten, sich erneut in die Diskussion einzubringen. Wenn wir das Verfahren laufen lassen, kommt es zwangsläufig zum Konflikt. Uns ist auch klar, dass gegen die Stimme des Landes, als Mehrheitseigner des Flughafens, die neue Flugroute nicht kommen wird. Der bloße Hinweis auf die Neutralität des Verkehrsministeriums kann nicht mehr verfangen – nicht rechtlich etwa aufgrund der Mehrheitsbeteiligung am Flughafen und nicht politisch – spätestens seit der Neubesetzung der Fluglärmkommission.
Ein Kompromiss kann auch kein „Probebetrieb“ mit zwei Fliegern pro Stunde sein, da es rechtlich keine Rechtsverordnung auf Probe gibt. Wenn nicht jetzt gehandelt wird, steht der gesamten Region ein jahrelanger politischer Konflikt ins Haus – den sollten wir gemeinsam vermeiden, da hieran niemand ein Interesse haben kann.
Mit freundlichen Grüßen
aus den Rathäusern von Nürtingen, Wolfschlugen, Aichtal, Neuhausen a.d.F. und
Denkendorf
Dr. Johannes Fridrich, Oberbürgermeister der Stadt Nürtingen
Sebastian Kurz, Bürgermeister der Stadt Aichtal
Matthias Ruckh, Bürgermeister der Gemeinde Wolfschlugen
Ingo Hacker, Bürgermeister der Gemeinde Neuhausen auf den Fildern
Ralf Barth, Bürgermeister der Gemeinde Denkendorf
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